Station 12 – Permoserstraße 15: Solidarität unter Zwangsarbeiter*innen bei den HASAG-Werken

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In den letzten Tagen und Stunden vor Kriegsende 1945 rettete eine kleine Gruppe von Zwangsarbeiter*innen des KZ-Außenlagers Hugo und August Schneider AG (HASAG) in Taucha über 80 verletzte und kranke Mitinsass*innen vor dem Tod. Einige mutige Frauen und Männer, die selbst aufgrund jahrelanger Verfolgung, Hunger und Gewalt geschwächt waren, riskierten am Kriegsende ihr eigenes Leben, um das Leben vieler Anderer zu retten.

Bela Hazan: eine jüdische Widerstandskämpferin

Unter diesen mutigen Menschen war auch die damals 22-jährige polnische Jüdin Bela Hazan. Sie stammte aus dem polnischen Rozyszcze (heute Ukraine) und war bereits als Teenager in der sozialistisch-zionistischen Jugendbewegung He-Halutz ha-Za’ir-Dror [1], einer Untergliederung der linken jüdischen Arbeiter*innenwegung, aktiv. Sie nahm an Schulungen und Sommercamps teil, in denen die jungen Menschen auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitet werden sollten. Neben der Unterrichtung in handwerklichen, vor allem landwirtschaftlichen, Fertigkeiten lernten die Mitglieder Hebräisch. Darüber hinaus wurde Bela Hazan militärisch geschult, was sie bald dazu befähigte, selbst Andere in Seminaren als Kämpfer*innen auszubilden.[2]

Nach Kriegsausbruch schmuggelte sie unter falscher Identität als Kurierin Informationen, Waffen, Geld und Kinder zwischen jüdischen Ghettos. Im Juni 1942 wurde sie von der Gestapo verhaftet und nach einem Gefängnisaufenthalt nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Anfang 1945 verschleppte die SS sie schließlich erst nach Ravensbrück und dann in das Außenlager in Malchow.[3]

Das KZ-Außenlager HASAG Taucha

Anfang April 1945 erreichte ein Transport aus dem Außenlager in Malchow mit mehreren hundert Frauen und Mädchen das KZ-Außenlager HASAG Taucha [4]. In diesem Transport war auch Bela Hazan. Das Außenlager HASAG Taucha war im Spätsommer 1944 errichtet worden und ein Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald. Die Gefangenen mussten für das Leipziger Rüstungsunternehmen HASAG Granaten und Panzerfäuste herstellen.

Im Lager HASAG Taucha waren zwischen Herbst 1944 und April 1945 mehr als 1300 Frauen und Mädchen inhaftiert. Neben vielen jüdischen Frauen waren die meisten von ihnen Sintizze und Romnija. Das Lager bestand aus mehreren Baracken und war von Stacheldraht und Wachtürmen umgeben. Im Oktober 1944 wurde auf dem gleichen Gelände ein durch Stacheldraht abgetrenntes Lager für Männer errichtet, in dem zeitweise 700 Zwangsarbeiter eingesperrt waren.

Alle Insass*innen des Lagers mussten in zwölfstündigen Tag- und Nachtschichten schwerste Zwangsarbeit verrichten. Unzureichende Ernährung, mangelnde Hygiene, Krankheiten und Gewalt prägten den Lageralltag. Kranke, schwache und damit aus Sicht der SS nicht arbeitsfähige Menschen wurden selektiert und zur Ermordung nach Auschwitz, Ravensbrück und Bergen-Belsen deportiert.

Mut und Solidarität unter den im Lager Zurückgelassenen

Mit dem Herannahen der Alliierten begann die SS in Leipzig und in der Region mit der Auflösung der KZ-Außenlager. Am 14. April 1945 räumte sie das Lager in Taucha und trieb etwa 1200 Frauen und Mädchen auf einen Todesmarsch [5] Richtung Osten. Mindestens 80 kranke und schwache Frauen und Männer wurden zusammen mit einigen Pfleger*innen zurückgelassen, fortan bewacht vom deutschen Volkssturm. Zu der Gruppe der Pfleger*innen gehörte auch Bela Hazan. Zusammen mit ihren Mitstreiter*innen brachte sie die Kranken und Schwachen in die Krankenbaracken des Lagers und versorgte diese medizinisch. Außerhalb der Krankenbaracken verteilten sie weiße Bettlaken und markierten die Dächer der Baracken mit Farbe – in der Hoffnung, dass die Alliierten die Gebäude als Krankenstation erkennen und somit nicht bombardieren würden. Auf einem Luftbild vom 17. April 1945 sind diese Markierungen zu erkennen.

Nachdem der Volkssturm die Bewachung des Lagers aufgegeben hatte, tauchten am Mittag des 18. Aprils plötzlich zwei Männer in Häftlingskleidung mit starken Verbrennungen im Lager auf. Sie stammten aus einem nur wenige Kilometer entfernten KZ-Außenlager in Leipzig-Thekla, das soeben von der SS in Brand gesteckt worden war. Durch ihre Flucht waren die beiden nur knapp dem Tod entkommen.[6]

Der Bericht der beiden Männer sowie der bis nach Taucha sichtbare Rauch versetzten Bela Hazan und ihre Mitstreiter*innen in Angst und Panik. Bela Hazan erinnerte sich später, dass ihre Gruppe sofort eine Entscheidung traf: Um nicht das gleiche Schicksal zu erleiden, mussten sie so schnell wie möglich mit allen Zurückgebliebenen das Lager verlassen! Mit letzter Kraft zogen sie die Kranken von den Liegen, bekleideten diese und schleppten und zerrten sie mit letzter Kraft in ein nahegelegenes Waldstück und versteckten sie unter Zweigen. Hier trafen sie auf einen älteren Deutschen, den einige als Vorarbeiter bei der HASAG identifizierten. Als dieser anbot, ihnen in der Nacht den Weg zu den Amerikanern zu zeigen, entschieden sie sich, ihm zu vertrauen.

„Ich bin ebenfalls Jude“ – Die Befreiung durch amerikanische Soldaten

Mit Anbruch der Dunkelheit bewegten sich die Frauen und Männer gegenseitig stützend und ziehend in Richtung der Amerikaner. Im Morgengrauen erreichten sie schließlich einen kleinen Hügel, von dem aus sie amerikanische Soldaten sahen. Ein Soldat, der sie erblickt hatte, kehrte kurze Zeit später mit seinem Vorgesetzten zurück, der die Gruppe zu ihrer Überraschung auf Yiddish ansprach: „Mein Name ist Captain Winter, sholem aleikhem, ich bin ebenfalls Jude.“

„Zu guter Letzt zeigte jemand menschliche Gefühle uns gegenüber,“ erinnerte sich Bela Hazan später. „Es gab an meinen Körper keine gesunde Stelle, er bestand nur aus Wunden, blauen Flecken und war voll mit Läusen. Leute vom Roten Kreuz halfen uns dabei, unsere Wunden zu waschen und zu verbinden. Als sie uns nackt sahen, weinten sie zusammen mit uns.“ [7]

1945: Auswanderung und Neuanfang

Nach einem kurzen Aufenthalt in einem von den Amerikanern in Leipzig errichteten Lazarett reiste Bela Hazan über Belgien nach Paris, von wo aus sie mit Soldaten der jüdischen Brigaden zunächst weiter nach Norditalien und schließlich in ein jüdisches DP-Lager [8] im Süden von Italien gelangte. Dort war sie drei Monate lang als Beraterin und als Lehrerin für verwaiste Mädchen, deren Eltern Partisan*innen gewesen waren, tätig. Gemeinsam wanderte sie mit der Gruppe im November 1945 per Schiff in das damalige Palästina aus. Während ihrer Zeit in einem Erholungsheim in einem Kibbuz schrieb Bela Hazan Ende 1945 ihre Erinnerungen auf [9] [10].

1946 heirate Bela Hazan einen Journalisten und Veteran der jüdischen Brigaden, den sie bereits in Italien kennengelernt hatte. Das Paar lebte in Tel Aviv und bekam zwei Kinder.

Bela Ya’ari Hazan starb 2004 in Jerusalem. 2018 wurde sie posthum mit der Auszeichnung „Jewish Rescuer Citation“[11] geehrt, eine Ehrung für Juden und Jüdinnen, die während des Holocausts anderen jüdischen Menschen das Leben retteten.

 

 

Fußnoten Einbleben

[1] Hierbei handelt es sich um eine Untergliederung der He-Halutz Bewegung, einer Vereinigung der jüdischen Jugend, die das Ziel hatte, seine Mitglieder durch Schulungen und Trainingsprogramme auf die Auswanderung und Ansiedlung in Palästina vorzubereiten. Ausführlichere Informationen zur Geschichte der Bewegung unter: https://www.jewishvirtuallibrary.org/he-x1e24-alutz-2 (abgerufen am 07.07.2021)

[2] Ausführlichere Informationen zu Bela Hazan und ihren Aktivitäten im jüdischen Widerstand findet sich auf der Webseite des Jewish Women‘s Archiv, unter: https://jwa.org/encyclopedia/article/hazan-bela-yaari (abgerufen am 007.07.2021) sowie im Newsletter #9 der Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig, unter:  www.zwangsarbeit-in-leipzig.de/fileadmin/Dateien/Newsletter/GfZL-Newsletter-2020-web.pdf

[3] Anfang April 1945 wurde das KZ-Außenlager in Malchow geräumt und Insass*innen des Lagers in die Außenlagers der HASAG nach Leipzig und Taucha deportiert.

[4] Weitere Informationen zum KZ-Außenlager „HASAG Taucha“ in: Benz, Wolfgang; Distel, Barbara (hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 3, Sachsenhausen und Buchenwald. München, 2006, S. 582 ff.

[5] Der Begriff Todesmarsch bezeichnet die gewaltvollen Evakuierungsmärsche, auf die die SS die Insass*innen kurz vor Kriegsende trieb. Menschen, die aufgrund von Schwäche oder Krankheit nicht mithalten konnten, wurden von der SS erschossen oder erschlagen.

[6] Am 18. April 1945 setzte die SS im KZ-Außenlager „Leipzig-Thekla“ eine Baracke in Brand, in die sie die kranken Zwangsarbeiter des Lagers gesperrt hatte. Insassen, die zu fliehen versuchten, wurden erschossen. Dieses Verbrechen ging als „Massaker von Abtnaundorf“ in die Geschichte ein. Weiterführend Informationen finden sich unter: https://www.zwangsarbeit-in-leipzig.de/zwangsarbeit-in-leipzig/mahnmal-abtnaundorf/ausfuehrlicher-text/

[7] Erinnerungen Bela Hazan, Dezember 1945, zitiert nach Yaari, Yoel: „The three jewish inmates at the center of one of the most daring holocaust rescue stories“, unter: https://www.haaretz.com/israel-news/.premium.MAGAZINE-the-three-jews-at-the-center-of-one-of-the-most-daring-holocaust-rescue-stories-1.8812977 (abgerufen am 30.06.2021)

[8] Der Begriff DP steht für Displaced Person und ist ein Sammelbegriff für alle Menschen, die sich aufgrund der Verfolgung am Ende des Zweiten Weltkriegs außerhalb ihrer Heimat aufhielten. Darunter fielen neben ehemaligen Zwangsarbeiter*innen und Kriegsgefangenen die überlebenden und befreiten Insass*innen aus den Konzentrationslagern.

[9] Der Erinnerungsbericht wird im Archiv des „Ghetto Fighter‘s House“ in Israel aufbewahrt und gilt dem Archiv zufolge als einer der frühsten Zeugnisse jüdischen Widerstands während des Zweiten Weltkrieges. 1991 erschien er als Buch unter dem Titel „Sie nannten mich Bronislawa“.

[10] vgl. Bender, Sara: „Bela Ya’ari Hazan. 1922–January 18, 2004“, unter: https://jwa.org/encyclopedia/article/hazan-bela-yaari#pid-15186 (abgerufen am 06.07.2021)

[11] Die Ehrung wird seit 2011 u.a. durch die internationale Organisation B’nai B’rith World Center-Jerusalem verliehen, für weitere Informationen siehe: https://www.bnaibrith.org