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Station 13 – Straße des 17. Juni: Der 17. Juni 1953 in Leipzig
Zwischen dem 12. und dem 17. Juni 1953 kam es in fast allen Städten und Bezirken der DDR zu Streiks und Demonstrationen von Arbeiter*innen. Auslöser war eine Arbeitsnormerhöhung, die viele Arbeiter*innen nicht einfach hinnehmen wollten. Seinen Höhepunkt erreichte der sogenannte Volksaufstand am 17. Juni 1953. Im Verlauf der Unruhen starben mindestens 55 Menschen. [1] Er konnte erst durch den Einsatz sowjetischer Truppen und Panzer niedergeschlagen werden. Bis zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurde an diesem Datum der Nationalfeiertag der BRD begangen, bis heute ist es ein offizieller Gedenktag. In Leipzig ist mittlerweile eine Straße nach diesem bedeutenden Datum benannt.
Die Vorgeschichte
Die DDR befand sich Anfang der 1950er Jahre in einer wirtschaftlichen Schieflage. Nach stalinistischem Vorbild hatte die SED vor allem in die Schwerindustrie investiert und die Landwirtschaft vernachlässigt. Der Mangel an Konsumgütern zog zusätzlich viele Menschen in den Westen. Um dieser Krise zu begegnen, beschloss das Zentralkomitee (ZK) der SED im Mai 1953 eine Erhöhung der Arbeitsnorm ab dem 30. Juni. Die Beschäftigten der Volkseigenen Betriebe (VEB) sollten zu diesem Zeitpunkt zehn Prozent mehr Arbeitsleistung für den gleichen Lohn erbringen, was de facto einer massiven Lohnsenkung gleichkam. Mit dieser Politik brachte die DDR-Führung große Teile der Bevölkerung gegen sich auf. Der staatlich kontrollierte Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) setzte sich jedoch nicht für diese Belange der Arbeiter*innen ein. Weiteren Unmut riefen der repressive Umgang mit Vertreter*innen der Opposition hervor.
Beginn der Unruhen
Als die DDR-Regierung, trotz der ablehnenden Haltung der Bevölkerung, weiter an ihren Plänen festhielt, brachen am 12. Juni Unruhen aus. Zunächst protestierten vor allem Menschen im ländlichen Raum. Vereinzelt wurden DDR-Fahnen verbrannt und sogar SED-Bürgermeister abgesetzt. Im Laufe der nächsten Tage erreichte die Protestwelle auch die Hauptstadt. In Berlin kam es schließlich zu großen Arbeitsniederlegungen und Protestzügen. Die SED-Führung sah sich schließlich am 16. Juni gezwungen, die Normerhöhung zurückzunehmen, um wieder Herr der Lage zu werden. In der Zwischenzeit hatten sich die Teilnehmer*innen jedoch zunehmend politisiert und forderten nun einen Rücktritt der Regierung und freie Neuwahlen.
Der 17. Juni in Leipzig
Wie in allen größeren Städten der DDR, streikten auch in Leipzig Arbeiter*innen am 17. Juni 1953. Die Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen erreichten ein enormes Ausmaß. Am Vormittag streiken bereits sieben große Baustellen in der Innenstadt und bis zum Nachmittag kamen 81 weitere Betriebe hinzu. Die zahlreichen Demonstrationszüge konzentrierten sich auf die Innenstadt und besonders auf den Karl-Marx-Platz (heute Augustusplatz) auf dem sich mindestens 40.000 Menschen versammelt hatten. Bereits gegen Mittag wurden auch die Räume der FDJ-Bezirksleitung in der Ritterstraße besetzt und verwüstet, doch die Situation bleibt zunächst friedlich. 14:30 Uhr erbeuten Aufständische beim Sturm auf eine Polizeiwache am Hauptbahnhof Waffen und Munition. Als Teilnehmer*innen einer Kundgebung Gebäude der Staatsanwaltschaft stürmten und Akten aus dem Fenster warfen, setzten die Volkspolizisten allerdings Schusswaffen ein und es kam zum ersten Toten des Aufstandes in Leipzig. [2]
Während des Tages kam es in Leipzig immer wieder zu Plünderungen, Zerstörungen und weiteren Versuchen Gebäude zu erstürmen. Auf dem Hauptmarkt vor dem alten Rathhaus wird der “Pavillon der Nationalen Front” demoliert und in Brand gesteckt. In dem Pavillon präsentierten sich die Dachorganisation fast aller Verbände und Blockparteien in der DDR. Daraufhin wurde gegen 16 Uhr das Kriegsrecht verhängt und sowjetische Panzer besetzten die Stadt. Die besondere Brisanz der Ereignisse in Leipzig lässt sich auch daran ablesen, dass der Ausnahmezustand hier erst am 11. Juli wieder aufgehoben wurde.
Im Verlauf der Unruhen kam es in Leipzig zu neun Toten und mindestens 95 Verletzten. Am Abend des 17. Juni war der Aufstand zu großen Teilen niedergeschlagen.
Im Nachgang der Ereignisse wurden sogenannte Provokateur*innen und unliebsame Personen durch die DDR-Justiz verfolgt und mit harten Strafen belegt. Darunter waren sieben Todesurteile. [3]
Die Ambivalenz des Aufstands
Die DDR-Führung und die von ihr kontrollierten Medien versuchten den Aufstand als einen vom Westen, also der BRD, inszenierten Putschversuch darzustellen. Dabei unterstellte man allen Teilnehmer*innen pauschal eine Nähe zum Faschismus, auch wenn diese lediglich versuchten ihre Interessen als Arbeiter*innen durchzusetzen. Auf diese Weise sollte jegliche Schuld von den Parteifunktionär*innen weggeschoben werden.
Demgegenüber wurden in der BRD und später im wiedervereinigten Deutschland die positiven Aspekte des Aufstands, wie die Forderung nach freien Wahlen, stark betont. Sowohl in öffentlichen als auch in historischen Debatten werden die problematischen Aspekte des 17. Juni 1953 hingegen kaum erwähnt. Versuche, auch die Schattenseiten des Aufstands aufzuarbeiten, wurden oft mit dem Verweis auf die nachweislich unsinnigen Behauptungen der DDR abgetan.
Zu diesen negativen Begleiterscheinungen zählten unter anderem Brandstiftungen und die Verbrennung von Büchern, die auch in Leipzig stattfanden. Mancherorts kam es sogar zu Morden an vermeintlichen oder tatsächlichen Vertreter*innen des verhassten SED-Regimes. [4] Mindestens vier Personen fielen der Lynchjustiz der Aufständischen zum Opfer. Vereinzelt scheint es zudem Bezüge auf den Nationalsozialismus gegeben zu haben, der erst acht Jahre zuvor besiegt worden war. So ist aus mehreren Städten das Singen der ersten Strophe des Deutschlandliedes belegt, das auch die Nationalhymne des „Dritten Reichs“ war. Die zeitliche Nähe zum Kriegsende und die fehlende Aufarbeitung der deutschen Verbrechen im 2. Weltkrieg, deuten auf die zweifelhafte Motivlage einiger Beteiligten hin. Verstärkt wird dieser Eindruck durch das vereinzelte Rufen faschistischer Parolen durch Demonstrierende. Bei der Erstürmung von Gefängnissen wurden zudem unterschiedslos alle Gefangenen befreit. Unter ihnen befanden sich auch verurteilte NS-Kriegsverbrecher.
Weder die verunglimpfende Darstellung des Arbeiter*innenaufstands, als westlich gesteuerter, faschistischer Putsch, durch offizielle Stellen der DDR, noch das idealisierte Bild, des heldenhaften Freiheitskampfs, wie es in der BRD verbreitet ist, stellen die Geschichte sachlich und objektiv dar. Eine differenzierte Darstellung der Ereignisse, findet man in der öffentlichen Debatte um den 17. Juni 1953 allerdings bis heute kaum.
- [1] http://www.17juni53.de/tote/index.html [20.04.2021]
- [2] Beate Berger, Heidi Roth: Ausnahmezustand — Der 17. Juni 1953 in Leipzig, Leipzig 2003, S. 36.
- [3] Heidi Roth: Der 17. Juni 1953 in Sachsen, Dresden 2003, S. 67.
- [4] Philipp Graf: Ein Tag des Volkes – Der 17. Juni 1953, die politische Gewalt und das historische Gedächtnis der Bundesrepublik. In: Jungle World 24/ 2013. Online: https://jungle.world/artikel/2013/24/ein-tag-des-volkes [22.04.2021]
Benjamin Männel