Station 14 – Baumwollspinnerei: Der Kampf der vietnamesischen VertragsarbeiterInnen ums Bleiberecht

Im Jahr 1980 schloss die DDR mit der Volksrepublik Vietnam einen Vertrag ab: Jahr für Jahr sollten tausende Vietnames*innen in die DDR kommen, um hier eine Ausbildung zu erhalten und zu arbeiten. Ähnliche Verträge gab es auch mit Mosambik, Kuba und Angola. Das offizielle Ziel klang wie ein Geschenk an die Herkunftsländer: Die Menschen sollten nach drei bzw. fünf Jahren wieder in ihre Länder zurückkehren, um dort mit ihrem angeeigneten Wissen den Sozialismus aufzubauen. Aber die DDR-Regierung nutzte diese Möglichkeit auch, um Engpässe in der Produktion auszugleichen, die u.A. aufgrund der permanenten Abwanderung von DDR-Bürger*innen nach Westdeutschland entstanden. Vor allem in Chemiefabriken, in der Autoindustrie, in Nähereien und Wäschereien, in denen die Arbeit besonders hart war, kamen die Vertragsarbeiter*innen zum Einsatz. In Leipzig arbeiteten sie beispielsweise im lokalen Schlachthof oder der berüchtigten Baumwollspinnerei, genannt „Spinne“ [1]. Insgesamt lebten 1989 60.000 Vietnames*nnen in der DDR, davon 4.600 im industriereichen Leipzig.

Nach der vertraglich vereinbarten Zeit mussten die Vietnames*innen wieder zurück in ihr Herkunftsland. Die sozialistische DDR hatte zwar einen internationalistischen Anspruch, aber es wurde streng darauf geachtet, dass sich die vermeintlichen Fremden nicht hier heimisch werden. Vielmehr hatten sie gar keine Bewegungsfreiheit und keine Möglichkeit der freien Arbeitswahl. Bei Schwangerschaft drohte sofortige Ausweisung. Auch sollten die Kontakte zu DDR-BürgerInnen abseits der Arbeit auf ein Minimum beschränkt werden: Die Vertragsarbeiter*innen lebten kaserniert und segregiert in eigenen Wohnheimen und erhielten in kurzen Sprachkursen nur rudimentäre Deutschkenntnisse.

 

Mit der Umbruchssituation 1989 sollte sich die Lebensbedingungen der Vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen radikal ändern.
Unter den Vietnames*innen in der DDR gab es nicht wenige, die vom Sozialismus überzeugt waren – insbesondere die DDR erschien ihnen auch im Vergleich zu den Zuständen in Vietnam als perfektes Land. Umso mehr blieb jenen die DDR-Demokratiebewegung von 1989 unverständlich. So resümiert ein damals an der TU Karl-Marx-Stadt promovierender Vietnamese:
„Die Demonstrationen in Leipzig waren für mich ein Schock. Die DDR war ein gutes Vorbild für Sozialismus, für die ganzen Leute. Die DDR war das beste Land; und dann hat man alles in einem halben Jahr kaputt gemacht. Unmöglich.“[2]

 

Doch viel Einschneidender waren die kommenden Monate: Allmählich wurde klar, dass die Wirtschaft in der DDR in eine tiefe Krise hineinrutschen würde. Das Betriebsklima in den Fabriken verschlechterte sich dadurch zunehmend. Als die ersten Massenentlassungen anstanden, entließen die Betriebsleitungen vielerorts die VertragsarbeiterInnen als Erste, um vermeintlichen Eskalationen zwischen DDR-Bürger*innen und Vertragsarbeiter*innen vorzubeugen. Bereits im Mai 1990 waren 60 Prozent von ihnen arbeitslos geworden.

Schlimmer noch: Mit der Abwicklung der Betriebe wurden auch die betriebseigenen Heime geschlossen, womit die Vertragsarbeiter*innen schlagartig obdachlos zu werden drohten. Während die Stadt Leipzig unter Druck ein solches Heim in der Joseph-Zettler-Straße in Gohlis in die kommunale Verwaltung übernahm, war damit längst nicht für alle eine Lösung gefunden. Das Heim war vollkommen überbelegt. Eine weitere Unterkunft in der Grünauer Liliensteinstraße wurde 1991 zu einer Unterkunft für Spätaussiedler*innen und Geflüchtete umgewidmet. Wo nun die Vertragsarbeiter*innen wohnen sollten, das interessierte nur wenige.
Viele ehemalige Bewohner*innen mussten mangels Alternativen in ihren Autos schlafen oder in Abrißhäusern hausen. Diese Menschen waren besonders betroffen von dem gewalttätigen Rassismus, der in dieser Zeit grassierte. Auch das Heim in Gohlis wurde 1992 von Neonazis mit Molotow-Cocktails angegriffen. Es war die Hochzeit der rechten Gewalt nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen, in dessen Nachgang auch in Leipzig permanent Überfälle und Attacken stattfanden.

 

Auch rechtlich war die Situation der Vertragsarbeiter*innen äußerst prekär. Zunächst wurde entschieden, dass sie sich so lange in Deutschland aufhalten durften, wie ihr eigentlicher Vertrag es vorgesehen hätte. Gleichzeitig setzte die letzte DDR-Regierung Anreize zur Rückkehr und bot 3000 Mark an, wenn bis zu einem Stichtag die Rückreise ins Herkunftsland angetreten würde.

Mit der deutschen Wiedervereinigung 1990 erhielten die ehemaligen Vertragsarbeiter*innen befristete Aufenthaltsbewilligungen. Als die ersten Abschiebungen drohten, verfügten die Innenministerien der ostdeutschen Bundesländer immerhin einen Abschiebestopp. Aber es blieb vollkommen unklar, was danach geschehen sollte.
All diese Unsicherheiten und der verbreitete Alltagsrassismus waren der Grund, weshalb bereits nach kurzer Zeit zwei Drittel der Vietnames*innen in der DDR wieder in ihr Herkunftsland zurückkehrten. Die Verbliebenen dagegen kämpften um ihre Aufenthaltstitel und mussten sich halb illegalisiert und ohne Anrecht auf staatliche Unterstützung durchschlagen. Viele von ihnen besorgten sich nun eine Reisegewerbegenehmigung und prägten als fliegende Händler*innen vielerorts die Märkte der Nachwendezeit, wobei sie insbesondere Gemüse, Kleidung, Musikkassetten und Schmuck verkauften. Andere wiederum hielten sich mit dem Verkauf unversteuerter Zigaretten über Wasser. In einer zeitgenössischen Meldung über das Wohnheim in Gohlis heißt es: „In einer Großaktion haben Zollfahnder, Mitarbeiter des Ordnungsamtes und Polizeibeamte das ehemalige Vietnamesen-Wohnheim in der Joseph-Zettler-Straße durchsucht und mehr als eine Million unversteuerter Zigaretten sowie etwa 20.000 geschmuggelte Musikkassetten sichergestellt“ [3]. Es war gerade dieser illegale Zigarettenhandel, der das öffentliche Bild der Vietnames*innen in Ostdeutschland für Jahre prägen sollte. Für viele war es angesichts der staatlichen Verdrängungspolitik die einzig mögliche Einkommensquelle.

 

Aufgrund öffentlichen Drucks wurde 1993 mit der Bleiberechtsregelung ein kleiner Fortschritt erreicht: Ab sofort waren die ehemaligen Vertragsarbeiter*innen nun befristet geduldet. Allerdings unter der Bedingung, dass sie ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können, also keine Sozialleistungen beziehen. Einmal mehr erwuchs daraus ein Zwang zur unternehmerischen Selbständigkeit, denn die Chancen auf eine Anstellung waren gering. In dieser Zeit entstanden in vielen Städten Ostdeutschlands von Vietnames*innen geführte Großhandelszentren mit einer Vielzahl von Einzelgeschäften. 1993 wurde so auch das Dong Xuan Center in Leipzig-Eutritzsch eröffnet, das bis heute mehrmals erweitert wurde. Während ein ähnliches Center in Berlin mittlerweile in den Fokus des internationalen Metropolentourismus geriet, wird das Leipziger Center eher als peripherer Unort betrachtet. Gleichwohl wird hier maßgeblich der Warenverkehr innerhalb der vietnamesischen community organisiert.

Da mit der Bleiberechtsregelung von 1993 wieder nur ein befristeter Aufenthalt gewährt wurde, wuchs in der Folge immer größerer Unmut. Im Oktober 1995 organisierten Mitglieder der vietnamesischen Community eine mit mehreren hundert Teilnehmer*nnen gut besuchte Demonstration in der Leipziger Innenstadt. Es sollte aber noch zwei Jahre dauern, bis es ab 1997 für ehemalige Vertragsarbeiter*innen endlich möglich wurde, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu erhalten
Aus dieser Bewegung der Vernetzung und des Protests heraus entstand zunächst der Verein der Vietnamesen Leipzig und später der Verein der vietnamesischen Frauen in Leipzig. Beide hatten zum Ziel, die Interessen der community in die deutsche Öffentlichkeit hinein zu vertreten und um ihre Rechte zu kämpfen.[4]

Die Bewegung der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen war durch zweierlei gekennzeichnet: Zum einen koordinierte sich die community, um in Form von Vereinsgründungen und Demonstrationen auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Zum anderen perfektionierten viele Vietnames*innen teils freiwillig, teils unter Druck unternehmerische Überlebensstrategien. Dies zeigt sich heute noch daran, dass Menschen mit vietnamesischen Migrationshintergrund in Leipzig diejenige Bevölkerungsgruppe mit den meisten Gewerbeanmeldungen ist.

 

Fußnoten

[1] Annegret Schüle (2001): „Die Spinne“. Die Erfahrungsgeschichte weiblicher Industriearbeit im VEB Leipziger Baumwollspinnerei. Leipzig.

[2] Katja Illgen – Erfahrungsräume und Lebensgeschichten – Vietnamesen in der DDR und in den neuen Bundesländern 2013, S. 223.

[3] Stadt Leipzig (o.J.): Chronik 1992. https://static.leipzig.de/fileadmin/mediendatenbank/leipzig-de/Stadt/02.1_Dez1_Allgemeine_Verwaltung/10.9_Stadtarchiv/Chroniken/Chronik_1992.pdf (Eingesehen am 10. Juni 2021).

[4] Leipziger Volkszeitung vom 24.07.2001

 

 

 

Dominik Intelmann

 

Quellen

  • Alexander Krahmer, Annegret Haase, Dominik Intelmann (2020): Migrationsbezogene Konflikte und institutioneller Wandel in Leipzig – mit einem Anhang zur lokalen Migrationsgeschichte (seit 1990). Helmholtz Zentrum für Umweltforschung. Leipzig.
  • Mirco Lomoth (2003): Hanoi liegt in Leipzig. In: Leipziger Blätter. 43. 47 – 50.
  • Website zum Ausstellungsprojekt „Hanoi liegt in Leipzig“ (2004):
    https://web.archive.org/web/20060509044247/http://www.leipzig.de/de/extern/hanoi/potraets.htm (Eingesehen am 10. Mai 2021)
  • Katja Illgen (2014): Erfahrungsräume und Lebensgeschichten – Vietnamesen in der DDR und in den neuen Bundesländern. Dissertation. https://www.db-thueringen.de/receive/dbt_mods_00023634 (Eingesehen am 19. Mai 2021)