Station 15 – Ring: Die Montagsdemonstrationen gegen Arbeitslosigkeit und Privatisierungen 1991

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Leipzig im Frühjahr 1991. Die großen Industriebetriebe der Stadt sind in einer tiefen Krise: Takraf Schwermaschinenbau in Plagwitz, Polygraph Buchbindereimaschinenwerke in Lindenau oder Orsta-Hydraulik in Zentrum-Nord. Die ersten Entlassungen erfolgten bereits im Jahr der Wiedervereinigung 1990. Aber was jetzt anrollt, ist für viele unfassbar: fast jede dritte Fabrik in Leipzig ist von der Einstellung der Produktion und Massenentlassungen betroffen. Die Gewerkschaften und Teile der Bürger*innenbewegung von 1989 entscheiden sich, dem Protest eine Stimme zu geben und melden die ersten Demonstrationen an. Als „Montagsdemonstrationen“ sollen sie eine Signalwirkung wie 1989 entfalten. Tatsächlich kommen ab März 1991 wöchentlich bis zu 70.000 Menschen in die Leipziger Innenstadt und laufen zum Abschluss über den Innenstadtring. Im Gegensatz zu 1989 ist die Stimmung jedoch gedrückt und defensiv. Gefordert wird die Abkehr von der Treuhandpolitik; appelliert wird an die Politiker*innen in Bonn. Und es äußert sich zum ersten Mal auf Massenbasis eine öffentliche Wut gegen alles Westdeutsche: Selbst der damalige Leipziger Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube, der sich solidarisch mit den Protestierenden zeigen wollte, wird ausgebuht. Neben „Wessis raus“-Rufen, steht auch der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl in der Kritik. Der Ruf „Kohl muss weg“ geht einher mit dem Einfordern der Wahlversprechen der CDU, in Ostdeutschland würde es bald „blühende Landschaften“ geben.

Doch der Hauptfokus liegt auf der Tätigkeit der Privatisierungsbehörde Treuhand. Sie hat zu verantworten, dass aus den ehemaligen Volkseigenen Betrieben (VEB) nun geschrumpfte, „verlängerte Werkbänke“ werden, die nur noch Zulieferbetriebe ohne Entscheidungsbefugnis sind. Und ohne Kapital können die Ost-Betriebe erst gar nicht durchstarten. Viele Ostdeutsche bezeichnen den Vorgang als Enteignung. Von den volkseigenen Werten wurden 95 Prozent an Westdeutsche und internationale Investor*innen privatisiert. Lediglich fünf Prozent gingen an Ostdeutsche Eigentümer*innen – und dies waren in erster Linie die ostdeutschen Städte und Kommunen.

Bei den Protesten fordern die Menschen jedoch keine Teilhabe am Eigentum der Fabriken und auch keine Kontrolle über die wirtschaftliche Tätigkeit der Betriebe. Sie wollen ihre Arbeit behalten. Und die Bilder der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft, die für fast alle durch das Fernsehen bekannt sind, haben große Erwartungen gesetzt. Es scheint vielen so, als sei ein Versprechen nicht eingehalten worden.

Kurz nach dem Höhepunkt der wöchentlichen Montagsdemonstrationen erschüttert am 30. März 1991 ein Bombenanschlag auf die Zentrale der Treuhand in Berlin die Öffentlichkeit. Nur zwei Tage darauf wird der Präsident der Treuhandanstalt, Detlev Rohwedder, ermordet. Die genauen Umstände der Tat sind bis heute umstritten, auch wenn die Rote Armee Fraktion sich damals dazu bekannte. Laut Bekenner*innenschreiben werde sich zeigen, ob die Ostdeutschen nun , „Raum erobern können, die Entwicklung selbst zu bestimmen“. Doch das Gegenteil tritt ein: Bei der nächsten Montagsdemonstration kommt nur noch ein Bruchteil der vorherigen Menschenmassen zusammen. Die Demonstrierenden bekennen sich dort zur Gewaltfreiheit und legen eine Gedenkminute für den ermordeten Rohwedder ein. In den nächsten Wochen zerfällt die Organisationsstruktur der Montagsdemonstrationen vollends: Zunächst ziehen sich die Gewerkschaften zurück, dann sagen die verbliebenen Vertreter*innen der Bürger*innenbewegungen die Weiterführung der Demonstration endgültig ab.

Die heute vergessenen Montagsdemonstrationen des Frühjahrs 1991 hatten damals nur wenig bewirkt. Zumindest wurde auf kommunaler Ebene ein „Runder Tisch für Beschäftigung“ gegründet, der sich mit den aufgeworfenen Problemen beschäftigen sollte. Auch mögen die Massenmobilisierung zu einer Sensibilisierung der Bundespolitik beigetragen haben, die nun mit dem Programm „Aufschwung Ost“ viel Geld für Auffanglösungen bereitstellte. Insgesamt aber stand der Stadt Leipzig, aber auch Ostdeutschland als Ganzem, das Schlimmste noch bevor: Mit der Einführung der Agenda 2010 bzw. Hartz IV und dem Aufstieg Leipzigs zur „Armutshauptstadt“ der Bundesrepublik verfestigte sich das Szenario von 1991. Und erst 2004 sollte es wieder vergleichbare Montagsdemonstrationen in Leipzig geben – dann gegen Hartz IV.

Dominik Intelmann

 

Quellen

  • Marcus Böick (2012): „Aufstand im Osten“? Sozialer und betrieblicher Protest gegen Treuhandanstalt und Wirtschaftsumbau in den frühen 1990er Jahren. In: Dieter von Bingen et al. (Hg.): Legitimation und Protest. Gesellschaftliche Unruhe in Polen, Ostdeutschland und anderen Transformationsländern nach 1989. 167-185. Wiesbaden.
  • Uwe Breitenborn & Dieter Rink (1991): Die Leipziger Montagsdemos. Wandlungen einer basisdemokratischen Institution. In: Blätter für Deutsche und Internationale Politik, 5. 584-589.
  • Dieter Rink (2017): Die Montagsdemonstration als Protestparadigma. Ihre Entwicklung von 1991 bis 2016 untersucht am Beispiel der Leipziger Protestzyklen. In: Priska Daphi et al. (Hg.): Protest in Bewegung? Leviathan Sonderband, Band 33. 282 – 305. Baden-Baden.