Station 16 – Neues Rathaus: Die Arbeitskämpfe in der Bauwirtschaft

 

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Während in Leipzig zahlreiche Industriestätten nach der Wiedereinigung schließen mussten, kam es in der Bauwirtschaft in den 1990ern zu einem Boom. Das realsozialistische Erbe sollte abgetragen und die graue Industriestadt eine strahlende Dienstleistungsmetropole werden. Zahlreiche Wohnhäuser wurden abgerissen oder saniert. Die Messestadt bekam eine Neue Messe. Büros wurden hochgezogen. Neue Straßen und Autobahnen wurden gebaut. Schließlich entstanden riesige Shopping Malls wie das Paunsdorf Center (1994) oder das Allee Center (1996) an den Stadträndern.

1995 arbeiteten insgesamt 16% der ostdeutschen Arbeiter*innen auf dem Bau. Trotz des Booms gab es auch 10.000 erwerbslose Sachsen. Für den Staat, die Gewerkschaften und kleinere Betriebe waren die Schuldigen hierfür damals schnell ausgemacht: Die sogenannten Schwarzarbeiter aus Osteuropa. Die IG BSE (Industriegewerkschaft Bau, Steine und Erde, die 1996 in der IG BAU aufgegangen) spielte keine rühmliche Rolle und unterstützte die Razzien gegen die illegal beschäftigten Ausländer*innen. Arbeiter*innen aus ost- und südeuropäischen Ländern, aber auch aus Irland und Großbritannien wurden von den Auftraggeber*innen über Subunternehmen angeheuert, weil ihre Lohnkosten geringer waren als für deutsche Arbeiter*innen. Während ein*e migrantische*r Arbeiter*in 15 DM pro Stunde verdiente, lag der Verdienst eines deutschen Baufacharbeiter bei 60 DM. Freilich waren die meisten Arbeiter*innen vollkommen legal in Deutschland und gleichzeitig gab es auch deutsche Arbeiter*innen ohne Arbeitsvertrag auf Baustellen.

Auf Leipziger Baustellen kamen so Arbeiter*innen aus der ganz Europa zusammen. Trotz der schlechten und gefährlichen Arbeitsbedingungen mit hohem Anteil an Überstunden und wenig Lohn ist über die Gegenwehr der Arbeiter*innen wenig bekannt. Der Widerstand auf dem Bau zeigte sich eher in kleintiligen subtilen Aktion wie dem Bummeln beim Arbeiten oder ausgedehnten Pausen. Eindrücklich ist der Bericht eines Bauarbeiters aus der WIldcat [2], der seine Erfahrungen auf einer Hotelbaustelle in Paunsdorf in den 1990ern schildert:

„Später […] sind die Festangestellten richtig wütend. Gerade haben sie ihre Lohnabrechnungen für den letzten Monat bekommen. Einige wollen die Überstunden, bis zu 80 im letzten Monat, irgendwann abfeiern, haben aber deshalb gerade mal 1500 DM netto auf dem Konto.   . Den ganzen Tag fluchen sie über die Kohle. Mehrmals sagt einer, sie müssten jetzt sofort aufhören, weil sie für den Scheißlohn schon genug gearbeitet hätten. […] In den nächsten Tagen spitzt sich die Sache zu. Die Pausen werden noch länger ausgedehnt und immer häufiger auf den Chef geschimpft. Einige reden jetzt offen davon, die Überstunden verweigern zu wollen. […] Einzelne wollen sich auch eine neue Stelle besorgen, aber sie wissen, dass die Bedingungen woanders auch nicht viel besser sind.“ [3]

 

Eine Ausnahme bildet die Kranbesetzung italienischer Kranführer vom 31. Mai bis 9. Juli 1995 in Schmannewitz nahe Leipzig. In dem Ort wurden zu dieser Zeit zwei Rehabilitationskliniken gebaut, die bis heute im Betrieb sind. Einer Gruppe von Arbeitern aus Süditalien, war bei der Anwerbung in Italien ein Lohn von 20 DM pro Stunde versprochen worden. Vor Ort erhielten sie nur einen Abschlag von 500 DM für zwei Wochen. Manche Arbeiter*innen gingen frustriert nach Hause, andere ließen sich noch mit weiteren Abschlägen abspeisen. Am Ende blieb eine Gruppe von 60 Arbeitern auf der Baustelle, die sich dagegen wehren wollte.

Ende Mai eskalierte die Lage weiter. Nach einer Razzia sollten die verbliebenen italienischen Arbeiter ohne Lohnauszahlung nach Hause geschickt werden, weil das Subunternehmen die Arbeiter nicht ins internationale Handwerksregister eingetragen hatte. Das ließen sich die Arbeiter nicht bieten. Sie besetzten ab 1. Juni die Wohncontainer auf der Baustelle, in denen die Arbeiter unter beengten Bedingungen untergebracht waren. Mit Transparenten an den Bauzäunen wiesen sie die Öffentlichkeit auf ihre Situation hin. Um den Forderungen Nachdruck zu verleihen, besetzte eine Gruppe von Unterstützer*innen das Büro des Oberbürgermeisters im Neuen Rathaus in Leipzig.

Der Bauleiter schob die Schuld aber auf das italienische Subunternehmen, weil diese die Rechnung zu spät gestellt hätten. Den italienischen Arbeitern war das egal. Sie blieben auf der Baustelle. Nach einer Woche ergebnisloser Verhandlungen, an denen auch das italienische Konsulat beteiligt war, besetzten die Arbeiter die Baukräne. Laut der Lokalzeitung riefen sie: „Wir haben Leistungen erbracht und wollen dafür bezahlt werden. Jetzt ist das Maß voll!“ [4] Am Ende erhielten die Besetzer rückwirkend 20 DM pro Stunde, einschließlich der Überstunden direkt vom Auftragnehmer Wolff & Müller. Wären die Arbeiter nach Entzug der Arbeitserlaubnis nach Hause gefahren, hätten sie in Italien wohl keine Chance mehr gehabt, ihre ausstehenden Löhne einzufordern. Das Unternehmen hätte sich eine Menge Geld gespart, was zu dieser Zeit in dem Sektor oft genug vorkam. Arbeiter die zuvor nach Italien gefahren waren, gingen leer aus.

Die Rolle der deutschen Bauarbeiter in diesem Konflikt wird anhand der Schilderungen deutlich:

„Diese ‚Kollegen‘ haben den ganzen Tag über versucht, die Blockade der anderen zu durchbrechen, nachdem sie schon eine Woche zuvor die Transparente von den Bauzäunen gerissen hatten. Dabei hatten einige von ihnen mit anderen Firmen ähnliche Erfahrungen gemacht. Als dann abends klar war, dass der Kampf gewonnen war und die Besetzer die Kräne freigaben, hatten sie nichts besseres  zu tun, als in die Führerhäuser zu krabbeln und sich dort die Nacht um die Ohren zu schlagen. Kein neuer Streik weitgefehlt. Sie wollten nur gewährleisten, dass ja auch am nächsten Morgen, mit der Arbeit weiter gemacht werden kann. Solche Knechte wünscht sich jeder Chef: Na dann, Gute Nacht.“ [5]

Am Beispiel Schmannewitz sieht man auch Spaltungslinien zwischen deutschen und italienischen Arbeitern. Erstere Gruppe zeigt keine Solidarität für die letztere. Die Spaltung der Bauarbeiter stärkte die Position der Arbeitgeber in den Konflikten auf ostdeutschen Baustellen. Doch die Belegschaften ließen sich nicht alles bieten. Die Lage auf den Baustellen führte zu kleinteiligen und subtilen Formen des Widerstandes, die auch deutsche Arbeiter*innen anwandten, allerdings bleiben kollektive militante Aktionen zur Durchsetzung der Interessen eher die Ausnahme.

 

 

Zum Weiterlesen:

BASTA (1995): Berlin-Brandenburger-BauarbeiterInnen-Blatt Sonderausgabe im Streik in Schmannewitz. In: Wildcat Zirkular 21, S. 21 – 27.

N.N. (1996): La Boom. In: Wildcat Zirkular 23. S. 44 – 48.

N.N. (1996): Strippen ziehen. In: Wildcat Zirkular 23. S. 49 – 57.

 

[1] Die Berufe in der Baubranche sind bis heute von Männern dominiert. Noch 2020 waren 1,7 % der Beschäftigten in Hoch- und Tiefbauberufen Frauen (Quelle: Statista). Daher habe ich mich gegen das Gendern entschieden, da es die Geschlechtsverhältnisse verdunkeln würde.

[2] Bei der Wildcat handelt es sich um eine unregelmäßig seit 1984 erscheinende deutschsprachige Zeitschrift, die sich mit den Kämpfen der Arbeiterklasse weltweit befasst. 1996 erschien eine Sonderausgabe zur Lage und den Kämpfen der ostdeutschen Arbeiterklasse am Beispiels Leipzigs (siehe unten).

[3] Vgl. N.N. (1996): Strippen ziehen. In: Wildcat Zirkular 23. Hier: S. 51.

[4] Vgl. LVZ/Torgauer Allgemeine vom 10./11. Juni 1995

[5] BASTA (1995): Berlin-Brandenburger-BauarbeiterInnen-Blatt Sonderausgabe im Streik in Schmannewitz. In: Wildcat Zirkular 21, S. 23 f.

 

Hans Stephan