Station 17 – Landesdirektion: Die Geflüchtetenstreiks vom Sommer 2000

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Mit der deutschen Wiedervereinigung 1990 wurden die Asylgesetze der alten Bundesrepublik übernommen und auch in Ostdeutschland angewendet. Fortan wurden Geflüchtete auch auf die östlichen Bundesländern verteilt. Insbesondere in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre waren die Unterkünfte der Geflüchteten, aber auch die der verbliebenen Vertragsarbeiter*innen der DDR, das Ziel von Pogromen: Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen verdeutlichten, dass die Geflüchteten im Zweifelsfall weder auf die einheimische Bevölkerung noch auf den Staat vertrauen können.

Ins Jahr 2000: Schon lange gibt es in Sachsen wie auch bundesweit Konflikte um die sozialen Leistungen für Geflüchtete. Staatlicherseits werden zusammengestellte Essenspakete bevorzugt, damit, so die Begründung, keine Anreize für einen Aufenthalt in Deutschland gesetzt werden. Die Geflüchteten fordern demgegenüber jedoch die Barauszahlung ihrer Sozialleistungen. Selbst die Ausgabe von Gutscheinen, mit denen sie zumindest in einigen wenigen Läden einkaufen könnten, sind sie bereit zu akzeptieren. Es geht um die Möglichkeit, ohne Bevormundung Produkte einkaufen zu können, um sich z.B. selbstbestimmt ernähren zu können.

Im Sommer 2000 ist zumindest für die Gruppe der Geflüchteten, die schon länger als drei Jahre im Asylverfahren sind, ein Ende in Sicht: Sie sollen per Gesetz ab 1. Juni 2000 wieder Anrecht auf Barauszahlung haben. Und in der Tat verkündet die Stadt Leipzig, ab sofort Bargeld zu gewähren. Doch jetzt beginnt ein chaotisches Hin und Her zwischen den Behörden. Die politischen Bruchlinien zwischen dem sozialdemokratisch geprägten Leipzig und dem CDU-geführten Sachsen treten zu Tage. Das Regierungspräsidium Leipzig als Mittelbehörde zwischen Stadt und Land weist die Behörden in Leipzig an, am Sachleistungsprinzip, also den sogenannten Fresspaketen, festzuhalten.

Als die Stadt den Erlass befolgt, treten 150 Geflüchtete in der Unterkunft in der Grünaer Lilienstraße am 2. Juni in den Hungerstreik. Sie blockieren die LKW’s, die die Freßpakete anliefern sollten und fordern stattdessen die Einhaltung der ursprünglichen Zusagen, also die Barauszahlung ihrer Ansprüche.

In einer zweiten Unterkunft der Stadt, der Torgauer Straße, entscheiden sich die Geflüchteten drei Tage später ebenso zu Protesten. Dort hat zwar fast niemand, auch nach dem ursprünglichen Gesetz, Anspruch auf Barauszahlung, aber die allgemeine Stimmung wird genutzt um die dortige Gemeinschaftsküche und andere Kritikpunkte zu thematisieren. 150 Menschen blockieren die Bundesstraße vor der Unterkunft und bringen für zwei Stunden den Verkehrsfluss zum erliegen. Und schließlich sind auch noch die Bewohner*innen der dritten Leipziger Unterkunft in der Raschwitzer Straße bei den Protesten dabei.

Und tatsächlich wendet sich plötzlich das Blatt. Am 7. Juni fällt bei einer Sitzung mit Oberbürgermeister Tiefensee die Entscheidung: Leipzig gibt Bargeld für die Betroffenen! Zwar nur nach Einzelfallprüfung, aber immerhin. Eine erste politische Reaktion auf die Proteste ist sichtbar geworden.
Unterdessen weiten sich die Proteste auch in den umliegenden Landkreis aus: In Taucha wird mit einem Hungerstreik begonnen; in Dahlen wird eine Straße blockiert. Zur Koordinierung ihrer weiteren Aktionen bilden die Geflüchteten in den Heimen Räte.

Inzwischen wird an etwa 100 der 1 300 in Leipzig registrierten Geflüchteten Bargeld ausgezahlt. Doch der sächsische Innennminister Klaus Hardraht von der CDU beschließt, dass die Geflüchteten auch in Leipzig weiterhin nur Sachleistungen erhalten. Zitat: „Damit wird Sachsen unattraktiv für Wirtschaftsflüchtlinge“, so der Innenminister.

In Erwartung der Rücknahme der Bargeldauszahlungen treten die Bewohner*innen der Liliensteinstraße am 30. Juni erneut in den Hungerstreik. Nur einern Tag später ist das Thema wieder Chefsache: der Leipziger Oberbürgermeister Tiefensee trifft sich mit dem Leiter des Regierungspräsidiums. Das Treffen endet im Konflikt zwischen den Institutionen: Die Stadt Leipzig geht davon aus, dass Bargeldauszahlungen wieder möglich sind, das Regierungspräsidium verweigert dies.

Inzwischen haben sich den bereits genannten Unterkünften noch weitere im Landkreis angeschlossen: In Markkleeberg, Doberschütz und Bahren wird nun auch protestiert. Und die Forderungen gehen mittlerweile über den bloßen Anspruch auf Bargeld für einen Teil der Geflüchteten hinaus: Mit der Verbesserung der Wohnbedingungen, kostenlosen Deutschkursen und einer allgemeine Arbeitserlaubnis werden Rechte für alle eingefordert.

Am 5. Juli ist klar, dass das Regierungspräsidium sich gegen die Stadt Leipzig durchgesetzt hat. Zähneknirschend verlautbart die Pressesprecherin der Stadt: „Wir vollziehen weisungsgemäß“.

Mittlerweile haben sich die Geflüchteten heimübergreifend getroffen, um einen Forderungskatalog auszuarbeiten. Am 6. Juli ist es swoweit: Bei einem Protestzug mit 600 Menschen durch die Innenstadt von Leipzig und vors Regierungspräsidium werden die Mißstände und Forderungen in die Öffentlichkeit gebracht:
„In der UN-Menschenrechtscharta wird das Recht auf Arbeit für jeden garantiert. Aber leider wird nicht nur uns das Recht auf Arbeit verweigert, sondern die sächsische Regierung entscheidet, was wir Essen müssen.
In der UN-Menschenrechtscharta wird das recht auf Freizügigkeit garantiert. Aber wir dürfen nicht bestimmte Gebiete, wo wir wohnen müssen, verlassen.
Wir haben keine Geduld mehr und wollen nicht mehr als Menschen 2. Klasse betrachtet werden.“

Und tatsächlich wird eine Delegation um die PDS-Landtagsabgeordnete Heike Werner, die die Demo angemeldet hatte, in das Regierungspräsidium zu einer Referatsleiterin vorgelassen – aber mehr als Beschwichtigungen sind nicht zu hören.

Am 21. Juli 2000 fällt dann die gemeinsame Entscheidung aller Räte in den Unterkünften: Nach dem Einknicken der Stadt Leipzig ist die Aussicht auf Erfolg gleich null. Der Streik wird als beendet erklärt. Die Geflüchteten nehmen nach allen Strapazen und Auseinandersetzungen die Essenspakete wieder an.

Erst acht Jahre später, nachdem in der Dresden im Jahr 2006 endlich Bargeld an alle ausgezahlt wurde, wird auch in Leipzig 2009 dieser Schritt vollzogen.

Was bleibt vom Streiksommer des Jahres 2000?

Im unmittelbaren Nachgang der Ereignisse gründete sich die Zeitschrift „Re-Aktionen“, die dem Informationsaustausch zwischen den Unterkünften dienen sollte. Außerdem formierte sich eine eigene Fußballmannschaft von Geflüchteten unter dem Dach des Vereins „Roter Stern Leipzig“. Und zum ersten Mal war es gelungen, nicht nur die BewohnerInnen einer einzelnen Unterkunft in Leipzig und Umgebung zu mobilisieren, sondern die Geflüchteten mehrerer Heime. Bemerkenswert ist nicht zuletzt, dass die Forderungen den engen Rahmen des Bargeld-Themas schnell hinter sich ließen und die allgemeinen Lebensbedingungen skandalisiert wurden.

Auch auf Seiten der lokalen Stadtgesellschaft scheint es Lernprozesse gegeben zu haben. So interessierte sich die Lokalzeitung LVZ in einem hohen Maße für die Belange der Geflüchteten und berichtete vergleichsweise oft. Außerdem vernetzten sich zivilgesellschaftliche und politische AktuerInnen und wurden überaus handlungsfähig: Das Büroprojekt Linxxnet in Connewitz konnte mit den Streiks politisch praktisch werden und zusammen mit dem Verein Kahina für Öffentlichkeit sorgen. Auch der sächsische Flüchtlingsrat konnte seine Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen und wurde damit einer kritischen Öffentlichkeit bekannter.
Und nicht zuletzt wurde einmal mehr klar: Leipzig war sowohl hinsichtlich seiner zivilgesellschaftlichen Strukturen als auch der offiziellen Lokalpolitik eine Art Gegenstück zu den ansonsten herrschenden „sächsischen Verhältnissen“. Auch wenn dieses leichte Aufbegehren einstweilen verpuffte.

Dominik Intelmann

 

Quellen:

  • Website der Zeitschrift „Re-Aktionen“ mit Pressespiegel und Forderungen: https://www.nadir.org/nadir/initiativ/re-aktionen/ (Eingesehen am 11. Juni 2021)