Station 18: Augustusplatz: Die Leipziger Demonstrationen gegen Hartz IV

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Die Bundestagswahl 1998 stellt eine historische Zäsur dar. Nach 16 Jahren schwarz-gelber Regierung unter Helmut Kohl erlangten erstmals SPD und Grüne bei einer Bundestagswahl die Mehrheit der Stimmen. Mit der darauffolgenden Regierungsbildung wird Gerhard Schröder Bundeskanzler. Die Reformprojekte der rot-grünen Regierung sind ambitioniert und beinhalten unter anderem eine Steuerreform, ein neues Staatsbürger*innenrecht sowie den Ausstieg aus der Atomenergie. Weiterhin soll ein Bündnis für Arbeit und Ausbildung mit dem Ziel des Abbaus von Arbeitslosigkeit geschaffen werden. Die Verbesserung der Lebensumstände scheint für viele greifbar. So wird zum Beispiel die volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wieder eingeführt – sie war 1996 von schwarz-gelb erst abgeschafft wurden.

Doch neben Verbesserungen in einigen Bereichen ist während der zweiten rot-grünen Regierung (2002 – 2005) unter Gerhard Schröder vor allem im Bereich Arbeits- und Sozialpolitik eine Entwicklung im Sinne des Kapitals zu beobachten. Diese wird 2003 mit der „Agenda 2010“ eingeleitet. Schröder verkündet in einer Regierungserklärung: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.“ Zwischen 2003 und 2005 folgen daraufhin eine Reihe Maßnahmen im Bereich Arbeits- und Sozialpolitik die für viele Betroffene ein Schlag ins Gesicht sind: Beschränkung des Arbeitslosengeldes auf 12 Monate, Lockerung des Kündigungsschutzes, Ausbau der Leih- und Zeitarbeit, Verschärfung der Regelungen der Zumutbarkeit der Arbeit und viele weitere. Mitglied der Hartz-Kommission ist der Leipziger Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee (SPD). Für die SPD sind die Reformen eine weitere Abkehr vom ihrem sozialdemokratischen Selbstverständnis und führen zu einer Abspaltung der Partei »Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative« (WASG) welche 2007 mit der PDS zur Partei Die Linke fussioniert.

Bis heute sind von der Agenda 2010 vor allem die Hartz-Reformen beziehungsweise Hartz-IV im breiten Gedächtnis der Bevölkerung verankert.

Der Protest formiert sich…

Als Initiator der Proteste gegen die Agenda2010 beziehungsweise HartzIV gilt der arbeitslose Bürokaufmann Andreas Ehrholdt (*1961) aus Magdeburg. Dieser organisierte im Juli 2004 in der sachsen-anhaltinischen Landeshauptstadt eine erste Demonstration gegen Sozialabbau unter dem Motto „Schluss mit Hartz IV, denn heute wir und morgen ihr“. An dieser beteiligten sich 600 Personen, eine Woche später bereits 6.000. Ehrholdt legte damit den Grundstein für bundesweit stattfindende Proteste und wird medial fortan als Kopf der Bewegung wahrgenommen. Er betont: „Wir laufen hinter keinem Parteibanner her, aber auch hinter keiner Gewerkschaftsfahne. Das ist jetzt eine Volksinitiative und das macht den Leuten in Berlin jetzt wohl auch Angst, weil das nicht steuerbar ist.“ Seine Erfahrungen verarbeitete Ehrholdt im 2011 erschienenen Buch „Ihr habt euch selbst verraten“.

Die Teilnehmenden des Protestes sind heterogen. Was sie eint ist die Angst vor beziehungsweise der bereits erlebte soziale Abstieg. Durch die Agenda2010 wurden größere Teile der Bevölkerung faktisch kollektiv ökonomisch herabgestuft. Die Heterogenität und Offenheit der Proteste ist auch Anlass zur Kritik: Neonazis werden nicht immer und überall von den Demonstrationen ausgeschlossen. Die NPD zieht im September 2004 mit 9,2% in den Landtag ein. Geworben hatte sie unter anderem mit der Parole „Quittung für Hartz“.

…auch in Leipzig

In Leipzig finden bereits ab März 2004 wöchentliche Demonstrationen statt. Auch sie wachsen stetig an, erreichen aber erst durch die Aufmerksamkeit um Andreas Ehrholdt und die Magdeburger Demonstrationen größeren Zuspruch. Magdeburg und Leipzig entwickeln sich in der darauffolgenden Zeit zu Zentren des Protests. Insgesamt ist die Protestbewegung in Ostdeutschland deutlich breiter und stärker verankert. In Leipzig liegt dies auch an der ökonomischen Situation der Einwohner*innen: die Arbeitslosigkeit ist hier mit 18% (2004) beziehungsweise 19,2% (2005) deutlich höher als im Bundesschnitt (2005: 11,7%). Auch das Nettoeinkommen ist mit 980€ im Vergleich zum Bundesschnitt von 2.833€ deutlich geringer. Durch diese deutlichen Unterschiede trägt Leipzig zwischen 2005 und 2014 den Titel der »Armutshauptstadt Deutschland« – in keiner anderen Stadt leben so viele Menschen in relativer Armut.

Mit Blick auf diese ökonomischen Verwerfungen formuliert ein Flugblatt welches für eine der ersten Demonstrationen am 29.03. in Leipzig wirbt bereits ein klares Problembewusstsein: „Schröders ‚Agenda 2010‘ ist weder ‚mutig“ noch ‚reformorientiert‘. Sie ist der größte Angriff aus unser Solidarsystem in der Geschichte der Bundesrepublik. – Sie ist schlicht – eine Konter-Reform.“ An anderer Stelle wird daraus geschlussfolgert: „Wir haben den westlichen Sozialstaat gewollt und erlangt – nun lasst ihn uns verteidigen!“

Höhepunkt und Abflauen der Proteste

Höhepunkt der Proteste und der damit einhergehenden Organisierung ist der August 2004. Die Protestbewegung nimmt bundesweit – stärker aber im Osten – an Fahrt auf und kulminiert am Ende des Monats.

Am 28. August 2004 findet in Leipzig auf Einladung der dortigen Organisator*innen der Montagsdemonstrationen ein erstes Treffen zur bundesweiten Koordinierung der Anti-Hartz-Bewegung statt. Daran nehmen 186 Menschen aus 66 Städten teil. Beschlossen wurde unter anderem eine bundesweite Vernetzung sowie einen Sternmarsch nach Berlin im Oktober 2004.

Am 29. August 2004 veröffentlichen Angehörige ehemaliger DDR-Oppositionsgruppen eine Erklärung gegen HartzIV. Vorausgegangen waren verschiedene Versuche einiger Teile der historrischen Bürgerrechtsbewegung der DDR die Demonstrationen gegen Sozialabbau aufgrund ihrer Bezeichnung als „Montagsdemonstrationen“ und die damit einhergehende Assoziation mit den historischen Montagsdemonstrationen in der DDR zu delegitimieren. Die Erklärung führt aus: „Wie sind einverstanden mit der Wiederbelebung der Montagsdemonstrationen. Es ging und geht um Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, Mündigkeit, Menschenwürde und Freiheit.“

Am 30. August 2004 demonstrieren bundesweit 200.000 Menschen und damit so viele wie nie zuvor zu diesem Thema. Doch bereits kurz darauf flauen die Proteste nach und nach ab.

Was bleibt?

Anlass der Proteste – auch in Leipzig – waren drastische Eingriffe in verschiedene Bereiche der Arbeits- und Sozialpolitik zugunsten des Kapitals. Die Demonstrierenden befürchteten eine weitere Verschlechterung ihrer oftmals eh schon prekären Lage. In den Demonstrationen äußerten sie kollektiven Unmut, konnten die Reformen jedoch nicht rückgängig machen. Die Demonstrationen als Orte kollektiver Ermächtigung und Organisierung verschwanden bereits nach kurzer Zeit wieder von der Bildfläche und kurz darauf aus dem öffentlichen Gedächtnis.

Steven Hummel