Station 19 – Merseburger Straße 204: Neue Halberg Guss

Der längste Streik der Nach-Wende-Geschichte

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Ausflug zu einem Arbeitskampf

Am 30. Juni 2019 saßen wir nach einem Vortrag bei einem Bier in einem linken Zentrum in Lindenau. Der Streik bei der Neuen Halberg Guss befand sich damals in der dritten Woche. Einigen von uns hatten gelesen, dass es dort eine Werksblockade durch die Industriearbeiter – gendern würde die Geschlechterverhältnisse in der Belegschaft verschleiern – gegeben hätte. Als einer aus der Runde einwarf, er hätte gehört, die Kollegen halten dort Nachtwache, sagten wir uns: „Hin da!“ So fuhren wir mit den Fahrräder Richtung IKEA, entlang der Merseburger Straße an den westlichen Stadtrand Leipzigs.

Als wir gegen Mitternacht am Werk ankamen, bot sich uns ein Bild, das wir aus Ostdeutschland so nicht kannten. Weit über hundert, meist stämmige Männer saßen an den beiden Eingangstoren des Gusswerkes um ein großes Lagerfeuer und im Hintergrund wehten die roten IG-Metall-Flaggen. Die Arbeiter hielten dort in Schichten Wache, um zu verhindern, dass die Besitzer von Prevent kommen würden, um Verkäufliches herauszuholen oder um den Einsatz von Streikbrechern zu verhindern. Grinsend wurde uns erzählt, dass drinnen wegen eines technischen Ausfalls ohnehin nichts mehr laufen würde. Die Geschäftsleitung bot 2.500€ für Hinweise auf einen möglichen Saboteur – allerdings erfolglos.

Wir hatten uns überlegt aus Solidarität einen Kasten Bier mitzubringen, doch das wäre nicht nötig gewesen. Kollegen aus Franken hatten aus Solidarität lokales Bier vorbeigebracht. Mit Bratwurst und Bier bestückt setzten wir uns zu den Arbeitern. Vermutlich half der Alkohol dabei Milieugrenzen zwischen linken Studierenden und ostdeutschen Industriearbeitern zu überwinden. Ich redete mit den Arbeitern nicht nur über den Konflikt, sondern auch über die DDR und die Wiedervereinigung. Natürlich kritisierten sie die Einschränkungen der Reisefreiheit, aber beklagten auch die soziale Unsicherheit und fehlende Kita-Plätze heute. Einer meinte zu mir, sie seien 1989 nicht auf die Straße gegangen.

 

Das Absterben der Guss-Industrie

Wir saßen vor einer der letzten laufenden Gießereien in Leipzig. Scharf kritisierten die Arbeiter das Massensterben der lokalen Gießereien in Folge der Treuhandpolitik. Mit der GISAG war Leipzig zu DDR-Zeiten Sitz eines großen Gießereikombinats gewesen. Das VEB Metallgusswerk Leipzig war in den 1980ern durch japanische Ingenieuren auf dem modernsten Stand der Technik gebaut worden. Es arbeiteten dort 1000 Menschen. Schon damals wurde für den westdeutschen VW Konzern produziert.[1]

Das Werk war seit dem kaum erneuert worden. Aufgrund der Möglichkeit besondere Legierungen herzustellen, konnte es sich trotz fehlender Investitionen in neue Produktionsanlagen im Gegensatz zu anderen Gießereien noch über Jahrzehnte erhalten. Es wurden Motorenblöcke, Zylinderköpfe und Kurbelwellen für LKW und Nutzfahrzeuge produziert. Das Arbeiten unter großer Hitze und bei Gasen war dabei körperlich sehr anstrengend und hochgefährlich. Darüber hinaus wurden die Leistungsvorgaben über die Jahre hinweg drastisch erhöht. Auch deswegen erzählten mir ältere Arbeiter, dass sie sich nach den ruhigeren Arbeitstagen in der DDR zurücksehnten. Im Kapitalismus war das Arbeiten immer härter geworden. Zum Zeitpunkt des Konflikts arbeiteten 550 Menschen im Werk, weil die Leiharbeiter schon nach Hause geschickt worden waren.

 

Der Kampf der Kapitalien

Das VEB Metallgusswerk hatte in den 1990ern Jahren mehrmals den Besitzer gewechselt, ehe es Teil des saarländischen Unternehmens Neue Halberg Guss wurde. Diese wurde dann wiederum vom bosnischen Zulieferer Prevent übernommen. Zum Zeitpunkt des Streiks wurden Komponenten für die VW LKW-Bauer Scania und MAN produziert. Prevent wollte höhere Stückpreise gegenüber VW rausschlagen und setzte die Preise für die Komponente um ein Vielfaches hoch. Der Zuliefer spielte dabei ein riskantes Spiel. Würden die Kunden wegbrechen, drohe die Werksschließung. Leidtragende dieses Spiels wären die Arbeiter und ihre Familien. VW kündigte schließlich den Vertrag mit Prevent, woraufhin die Geschäftsleitung den Arbeitern eröffnete, dass der Standort Ende 2019 geschlossen werden würde.

 

Der Streik

Die Arbeiter ließen sich das nicht bieten und traten ab 14. Juni 2018 in den Streik. Die Teilnahme lag bei 100 %. So konnte der Streik die Produktion völlig lahmlegen. Der Machthebel des Streiks lag darin, dass Prevent Strafen an die Abnehmer zahlen musste, die in Folge des Produktionsstopps nicht beliefert werden konnten. Der Streik führte zu Produktionsausfällen bis nach Italien, wo beim Nutzfahrzeugbauer Iveco das Band stillstand. Doch die 48 Streiktage bestanden nicht nur aus spannenden Aktionen wie Blockaden, einigen Demonstrationen und Autokorsos in der Stadt oder Besuchen von Arbeitern anderer Betriebe, Schulklassen, lokalen Politiker*innen und linken Gruppen. Meistens harrten die Arbeiter bei großer Sommerhitze gelangweilt aus.

Die IG Metall forderte einen Sozialtarifvertrag mit Abfindungen und Qualifizierungsmaßnahmen für die von Erwerbslosigkeit bedrohten Arbeiter. In der Bild beschwerte sich Geschäftsführer Alexander Gerstungen: „Ich habe hier einen Forderungskatalog vorliegen, der ist utopisch, wie aus dem Schlaraffenland. Da müssten die Streikenden ja nie wieder arbeiten gehen…“ Die IG Metall wollte mit den hohen Forderungen die Kosten einer Schließung in die Höhe treiben.

Am Ende erreichten die IG Metall und die Belegschaft ihr Ziel. Prevent stellte das Werk zum Verkauf. Schließlich konnte Anfang Dezember die Übernahme durch ein Investorenkonsortium verkündet werden.

 

Das Ende der Halberg Guss

Leider muss ergänzt werden, dass die Investoren das Werk aus mehreren Gründen nicht aus der Krise führen konnten. Durch den Konflikt mit VW und den langen Streik mit Produktionsstopp waren wichtige Kunden abgesprungen. Langfristig hätte höhere Investitionen in das Werk getätigt werden müssen, da das Werk für die klassischen Verbrenner produzierte und nicht so einfach auf E-Mobilität umstellen konnte, was aber die Endproduzenten von LKWs und Nutzfahrzeugen anstrebten. In dieser Gemengelage führte der kurzzeitige Nachfragerückgang in der Branche durch die COVID-19-Krise im Frühjahr 2021 zur Insolvenz des Unternehmens. Das Werk wurde zum 30. September 2020 stillgelegt.  Die 400 verbliebenden Arbeiter standen am Vorabend einer Rezession vor dem ökonomischen Aus.

 

[1] Zur Geschichte des VEB MEGU in der DDR: https://www.lvz.de/Leipzig/Lokales/Aus-fuer-Gusswerke-Leipzig-Als-Megu-in-DDR-Zeiten-mit-Japan-Deal-ganz-vorn (Eingesehen am 8. Juni 2021)

 

Hans Stephan