Station 20 – Amazonstraße 1: „Amazon-Kapitalismus“[1]. Leipzigs Wandel zur Logistik-Metropole

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Als das Leipziger Fulfillment Center, wie Amazon seine Warenlager nennt, 2006 eröffnet wurde, war es ein Pionier in der Region. Alle Faktoren, die für den größtem Onlinehändler der Welt in seiner Standortpolitik ausschlaggebend sind, fand man Mitte der 2000er Jahre in Leipzig vor. Zum einen verfügt Leipzig über eine ausgebaute logistische Infrastruktur mit der Mitteldeutsche Schleife und dem Flughafen Leipzig-Halle als einem der größten Transportflughäfen Europas. Zum anderen war das Lohnniveau in „Deutschlands Armutshauptstadt“ sehr niedrig. Im regionalen Vergleich bezahlte Amazon relativ hohe Löhne, was für viele Arbeiter*innen ein Anreiz war, sich zu bewerben. Logistische Infrastrukturen, wie auch ein niedriges Lohnniveau waren und sind für andere Unternehmen der Branche wie DHL Express oder Momox Pull-Faktoren. All diese Ansiedlungen markieren Leipzigs Wandel von der deindustrialisierten Armutshauptstadt zu einem wichtigen europäischen Logistikknotenpunkt.

 

Datenschutz und Gesundheit als Ausgangspunkt des Arbeitskampfes

Viele Arbeiter*innen merkten schnell, dass mit dem Job einige Probleme verbunden waren. Im Vordergrund stand nicht nur der Lohn, sondern vor allem der ständige Druck durch Leistungsfeedbacks von Vorgesetzten und den massiven Einsatz von Überwachungstechnologie. Das Sinnbild hierfür wurde der Handscanner im Arbeitsbereich Pick. Dieser schreibt den Arbeiter*innen, die die Waren aus den Regalen in Wägen zusammenzusammeln, genaustens die Laufrouten vor. Selbst in der Routenplanung aktiv zu werden, ist nicht erwünscht. Des Weiteren kann der Vorgesetzte über den Handscanner Standort und Aktivität der Arbeiter*innen in Echtzeit überwachen. So kann das Management regelrecht Angriffspunkte gegen jeden einzelnen schaffen. Außerdem traten über die Jahre bei der alternden Belegschaft negative gesundheitlichen Folgen durch erzwungene ergonomisch schlechte Haltung am Arbeitsplatz und den psychischen Stress auf.

 

Das Arbeitsgericht als Grenze der Betriebsratspolitik

Zwar konnte der 2009 gegründete Betriebsrat, die Rechtsbrüche der ersten Jahre stoppen, aber Leistungsdruck und Gesundheitsschutz sind bis heute ein Dauerthema. 2018 eroberte die Ver.di zum ersten Mal die Mehrheit im Betriebsrat. Amazon sabotiert seitdem heftiger die Betriebsratsarbeit. Der Betriebsrat musste seitdem zweimal neu gewählt werden, nachdem Amazon gegen die Wahl geklagt hatte. Der Betriebsrat sei jeweils zu groß für die Zahl der Mitarbeiter*innen gewesen. Auch bei anderen Themen wie Kündigungen oder COVID-19-Maßnahmen trafen sich Geschäftsleitung und Betriebsrat vor dem Arbeitsgericht wieder.

 

Die Streikbewegung bei Amazon: Ein Minderheitenstreik mit internationaler Strahlkraft

Die Gründung eines Betriebsrates war den Verdianer*innen aber nicht genug, um ihre Interessen durchzusetzen. Seit den 2010er arbeiteten Vertrauensleute der Ver.di am Aufbau einer Streikbewegung mit dem Ziel der Übernahme des Tarifvertrags Einzelhandel bei Amazon. Zu ersten Streiks kam es am 14. Mai 2013 an den Standorten in Leipzig und Bad Hersfeld. Die Streikbewegung dehnte sich auf andere-Standorten wie Rheinberg, Koblenz oder Graben aus. Die Tarifauseinandersetzung dauert bis heute an.  Streiks finden an Tagen mit einem erhöhten Bestellaufkommen, wie am Black Friday oder in den Wochen vor Weihnachten statt. Die Streiks waren von Anfang an Minderheitenstreiks. In Leipzig nimmt ein Viertel der Belegschaft an den Kämpfen teil. Die geringe Beteiligung an den Streiks hängt dabei auch mit den Versuchen Amazons zusammen, Arbeiter*innen Angst zu machen. Amazon versucht sich gewerkschaftlich organisierter Arbeiter*innen zu entledigen.

Die Streiks erweckten deutschlandweit großes mediale Interesse. Die Streikbewegung schaffte es „Amazon“ zu einem Synonym für schlechte Arbeit zu machen. Leider ist fraglich, ob diese Diskussionen bei der Mehrheit der Beschäftigten, vor allem bei den nicht-organisierten Standorten ankommen. Es bildeten sich seit 2013 Solikreise für die Streiks in ganz Deutschland. Diese bestanden meisten aus linken Studierenden und – vor allem in Westdeutschland – aus Rentner*innen. Mittlerweile gibt es noch den Solikreis in Leipzig.  Die Debatte um eine Neue Klassenpolitik in der deutschen Linke seit den 2010er Jahren hatte großen Einfluss auf die Bewegung. Auch wenn die Gruppen formell nicht mehr existieren, gibt es so deutschlandweit viele Gruppen und einzelne politische Aktivist*innen, die die Kämpfe unterstützen.

Amazons krasse Expansionspolitik schwächt den Erfolg der Streiks immer weiter ab. Alljährlich entstehen in Deutschland immer neue Fulfillment Center. Doch Fulfillment Center für deutsche Kund*innen entstehen nicht nur auf dem Territorium der BRD sondern ebenso in osteuropäischen Nachbarländern wie der Slowakei und Polen. Das weltweite Netzwerk von Amazon macht auf der Seite der Arbeiter*innen ein Netzwerk nötig, um sich gegenseitig zu unterstützen. Seit 2015 entstand mit Amazon Workers International ein internationales Netzwerk mit Arbeiter*innen aus Europa und den USA. 2018 und 2019 fanden internationale Treffen der Amazon-Arbeiter*innen in Leipzig statt. Leipzig wird somit im Stillen wieder zu einem Knotenpunkt der internationalen Arbeiter*innenbewegung.

2021 geht der Streik bei Amazon ins achte Jahr und ist damit der längste Kampf für einen Tarifvertrag überhaupt. Trotz der Schwäche der Streiks durch die geringe Beteiligung, der rasanten Expansion Amazons und der prinzipiellen Weigerung Amazons mit Gewerkschaften zu sprechen, waren die Kämpfe erfolgreich. Seit Beginn des Streiks steigen an allen Standorten jährlich die Löhne – auch wenn sie noch nicht das Niveau des Tarifvertrages Einzelhandel erreicht haben. Weiterhin verhindern Betriebsräte Amazons rigorose Kündigungspolitik und erkämpfen den Schutz der Beschäftigtendaten.

 

Amazons Zukunft in der Region: Schwerere Arbeit und neue Standorte

Mittlerweile befindet sich der Leipziger Standort vor einem Umbruch. Die Robotertechnik kann in dem alten Standort nicht mehr eingebaut werden. Es findet eine Umstellung des Lagers auf solche Waren statt, die in den neusten Robotik-Lagern nicht bearbeitet werden können. Das bedeutet für die Beschäftigten eine weitere Erschwerung der Arbeit, da es sich hierbei um Güter handelt, die besonders sperrig oder schwer sind.

Gleichzeitig entstehen in der Region neue Standorte wie in Gera oder in Sülzetal bei Magdeburg. Amazon wird aber auch Leipzig treu bleiben. Im September 2020 eröffnete am Flughafen Leipzig-Halle der Standort von Amazon Air, der konzerneigenen Luftfrachtsparte. Dem Standort wird eine strategisch große Bedeutung zugesagt. Es sollen bis zu 5000 Arbeiter*innen dort bis 2030 arbeiten. Eine Gesandschaft von Streikenden aus Leipzig besuchte den Standort in Sülzetal bereits zum Osterstreik 2021 und stieß bei den dort Beschäftigten auf Interesse.  Für die Gewerkschaft Ver.di bedeutet diese Expansion wieder: Organisieren, Kämpfen, Gewinnen.

 

Literatur:

  • Jake Alimahomed-Wilson, Juliann Allison & Elle Reese (2020): Introduction: Amazon Capitalism. In: Jake Alimahomed-Wilson & Ellen Reese (Hg.): The Cost of Free Shipping Amazon in the Global Economy. 1 – 19. London.
  • Sabine Pfeiffer (2021): Digitalisierung als Distributivkraft. Über das Neue am digitalen Kapitalismus. Bielefeld.

[1] Den Begriffe entnehme ich Alimahomed-Wilson et all. (2021). Die Autor*innen eines Sammelbandes zu Amazon bezeichnen so die gegenwärtige Epoche des Kapitalismus, der sich durch einen enormen Bedeutungsgewinn der Warendistributionskräfte, d.h. Transport, Lagerung, Marketing und Steuerung, auszeichnet.

 

Hans Stephan unter Mithilfe von Ver.di-Vertrauensleuten bei Amazon.